Leitartikel Russland und Georgien: Die Ukraine als Blaupause

Junge Menschen demonstrieren in Tiflis für eine EU-Anbindung ihres Landes.
Junge Menschen demonstrieren in Tiflis für eine EU-Anbindung ihres Landes.

Wie vor zehn Jahren die Ukraine steht nun Georgien am Scheideweg zwischen Russland und Europa. Die Parallelen sind auffallend und erschreckend. Im Südkaukasus entsteht gerade ein weiterer Krisenherd.

Junge Menschen, die ihre Landesflagge schwenken, sich blaue Fahnen mit dem goldenen Sternenkreis der EU um die Schultern legen und für eine selbstbestimmte Zukunft in Europa demonstrieren: Bei diesen Bildern überkommt den Betrachter ein Déjà-vu-Gefühl. Die Szenerie in Tiflis heute ist fast austauschbar mit der in Kiew vor gut zehn Jahren.

Die Parallelen zwischen dem, was sich in Georgien derzeit abspielt, und der Vorgeschichte des russischen Einmarsches in der Ukraine sind frappierend – und erschreckend. In beiden ehemaligen Sowjetrepubliken, die in den 1990er Jahren sehr zum Ärger ihrer ehemaligen Führungsmacht Russland unabhängig geworden sind, gibt es eine breite, vor allem in der jungen Generation verankerte Hinwendung zur Europäischen Union – und die Absicht, der Nato beizutreten.

Lavieren zwischen Russland und Europa

Nach einer Phase des Lavierens zwischen Russland und dem Westen bremst die georgische Regierung nun durch ihr „Gesetz gegen ausländische Einflussnahme“ den Annäherungsprozess an die EU aus, so wie einst der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch das Assoziierungsabkommen seines Landes mit der Europäischen Union aussetzte.

Was Janukowitsch damals bewogen hat, das von ihm ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der EU zu kippen, darüber kann nur spekuliert werden. Genauso wie über die Gründe der georgischen Regierung, dem im Dezember 2023 begonnenen EU-Beitrittsprozess nun mit dem gegen Zivilgesellschaft und freie Medien gerichteten Gesetz quasi den Todesstoß zu versetzen. Unbestreitbar indes ist Russlands Einfluss in Georgien, das wirtschaftlich immer noch von Moskau abhängig ist – genauso groß war der Einfluss des Kremls auf die Ukraine vor 2013/14.

Russlands Truppen haben es nicht weit nach Tiflis

Nachdem die Ukrainer ihren unliebsamen Präsidenten Janukowitsch vertrieben hatten und sich auf den Weg machten in Richtung Europa, annektierte Russland zuerst die Krim und besetzte wenig später die Ostukraine. Teile Georgiens sind dagegen heute schon de facto unter der Kontrolle Moskaus: die Regionen Südossetien und Abchasien, die sich in den 1990er Jahren von Georgien abgespalten haben und seither formell unabhängig sind. Dort sind russische Truppen stationiert. Die hätten es auch nicht weit bis nach Tiflis.

Im Herbst stehen in Georgien Wahlen an. Die derzeitige Regierungspartei Georgischer Traum, gegründet 2011 von Bidsina Iwanischwili, einem Milliardär mit dubiosem Lebenslauf, profitierte bisher davon, dass die Opposition heillos zerstritten war. Die Massenproteste wegen des Gesetzes gegen vermeintliche ausländische Einflussnahme, das frappierend dem Gesetz über „ausländische Agenten“ in Russland ähnelt, könnten der Opposition nun nicht nur einen großen Stimmenzuwachs bringen, sondern die Konkurrenten womöglich zu einer Koalition gegen die Partei Georgischer Traum zusammenführen.

Wie geht der Krieg in der Ukraine weiter?

Wie Russland reagieren wird, sollte die Opposition die Wahlen in Georgien gewinnen und den Beitrittsprozess zu EU und Nato forcieren, kann niemand vorhersagen. Es wird mit Sicherheit nicht unerheblich davon abhängen, wie erfolgreich der Krieg in der Ukraine aus russischer Sicht verläuft.

Es bestehen allerdings kaum Zweifel daran, dass Kreml-Chef Wladimir Putin es nicht hinnehmen würde, dass sich ein weiteres Land aus Russlands vermeintlichem Machtbereich auf den Weg in Richtung Europa, in Richtung Westen macht. Das einzige was Georgien dann vor einer militärischen Intervention des aggressiven Nachbarn im Norden retten könnte, wäre wohl, dass die Ukraine durchhält. An zwei Fronten Krieg zu führen, dürfte auch für den Machthaber im Kreml ein zu großes Risiko sein.

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